Derzeit kann man zu dem Eindruck kommen, dass lediglich die - teils wahnwitzigen - Visionen einiger weniger ans Licht der Öffentlichkeit kommen. So fabuliert IT-Milliardär BG von Revolutionen im Gesundheitssystem. Ein anderer - man könnte ihn als Netzwerker im fortgeschrittenen Alter bezeichnen - träumt gar von einem Neustart der ganzen Welt. Die Lenker einer bezopften jugendlichen Skandinavierin wollen der Natur ein Schnäppchen schlagen und das Klima retten und dabei gleich alles über Bord werfen, was den Menschen Wohlstand gebracht hat. Ein vorwiegend durch das - auch nicht unumstrittene - Thema Elektromobilität bekannt gewordener Kreativer lässt Dutzende von Satelliten ins All schießen, um unseren Planeten mit flächendeckendem schnellen Internet zu überziehen. Und Telekommunikationsanbieter skizzieren uns die Unabdingbarkeit von Errungenschaften, wie die automatische Bestellung von Milch und Eiern durch den Kühlschrank. Wer sang noch gleich in der Neuen Deutschen Welle "der Wäschetrockner flirtet mit dem Video..."? Ja, es war Spliff mit ihrem - damals visionären - Beitrag "Computer sind doof". Woran sich auch nicht sooo viel geändert hat, jedenfalls weniger, als mancher in der Politik agierende IT-Laie so glaubt.
So weit, so gut. Das Problem ist, dass diese Visionen, die sich teilweise bereits in Umsetzung befinden, keineswegs kompatibel zu den Visionen des Einzelnen oder auch nur der Mehrheit der Bevölkerung sind. Ich halte es für relativ illusorisch zu glauben, dass ein breiter gesellschaftlicher Konsens überhaupt möglich sein wird. Zu unterschiedlich sind Kulturen, zu verschieden die Vorstellungen, zu zahlreich die Sprachen.
Aktuell reden wir von massiven Einschränkungen unserer Freiheit, womit wir weitestgehend Einschränkungen in unserem eigenen Mikrokosmos meinen. Aber was ist mit der Freiheit, eine Vision auch ablehnen zu können, indem wir uns dieser entziehen? Wie soll man sich etwa 5G-Strahlung entziehen, wenn diese flächendeckend installiert wird? Kann man sich staatlichen regulierenden Maßnahmen entziehen, wenn es vielen Politikern nicht nur an Ethik und Moral, sondern ganz offensichtlich auch an Intelligenz und Weitblick fehlt?
Die entscheidende Frage ist doch, wie wir die Freiheit unseres persönlichen Lebensmodells aufrechterhalten können. Wenn eine Mehrheit(?) der deutschen Bürger die aktuelle Politik befürwortet und ich mit den Entwicklungen nicht konform gehe, dann möchte ich die Möglichkeit haben, mich diesem durch Niederlassung in einer anderen Region zu entziehen. Wenn nun aber die komplette EU nach Merkels Pfeife tanzt, wird dies schon schwieriger.
Warum kann man nicht - z.B. auf Ebene der EU - zu einem Modell kommen, bei dem verschiedene Regionen (nicht zwangsläufig die heutigen Landesgrenzen) verschiedene Lebensmodelle offerieren? Diese Regionen unterscheiden sich möglicherweise ganz erheblich in ihrem Angebot für die Bürger. Da mag es dann Regionen geben, die attraktiv sind, wenn man mit körperlicher und/oder geistiger Arbeit Geld verdienen will. Es mag Regionen geben, die gut für den Ruhestand geeignet sind. Es mag Regionen geben, die für Forschung und Innovation stehen, andere vielleicht für Energieerzeugung. Ich nenne das mal "strategische Ausrichtung" der jeweiligen Region. Abhängig von der strategischen Ausrichtung müssten die Regionen unterschiedlich organisiert sein, manche mit strafferer zentralerer Führung und andere mit eher dezentraler Ausrichtung und höherer Autonomie des Einzelnen. Eine Art freie Marktwirtschaft zum Anbieten und Akzeptieren von unterschiedlichen Lebensmodellen.
Heute bildet noch immer die Sprache die vermutlich größte Barriere für eine Wahlfreiheit des persönlichen Standortes. Müsste vielleicht an einem neuen "Esperanto" gearbeitet werden oder glauben wir, dass die automatische Übersetzung dies in absehbarer Zeit überflüssig macht?
Ich muss sagen, dass sich mein eigener Traum von einer gemeinsamen EU so ziemlich in Luft aufgelöst hat. Und wenn ich anfangs die Brexitianer für irre hielt, hat sich auch da meine Meinung inzwischen geändert und ist differenzierter. Ich bin ziemlich sicher, dass die Vision einer EU verschiedenster Regionen eine deutlich bessere Akzeptanz und Zukunft hätte, als die sich abzeichnende zentralistische, vor Bürokratie überbordende Variante, die seit vielen Jahren praktiziert wird und die ihre Unfähigkeit immer wieder unter Beweis gestellt hat, gipfelnd aktuell in der Tatsache, dass einer der bewiesenermaßen unfähigsten Politikerinnen die Chance gegeben wird, ein so komplexes Thema wie Vertragsgestaltung und Logistik für Impfdosen managen zu können. (Nun ja, vielleicht ist Unfähigkeit in diesem Fall sogar vorteilhaft).
Können wir stattdessen eine EU der Regionen gestalten, in welcher Brüssel nur den gemeinsamen Nenner abbildet und bestimmte Zentralfunktionen (so viele wie unbedingt nötig und so wenige wie möglich) ausübt? Eine EU der autonomen Regionen (nicht Staaten), die verschiedene Lebensmodelle offerieren? Und vor allem eine EU, in der die Bürger sich selbst für ihr Lebensmodell entscheiden und dies auch im Laufe ihres Lebens wechseln können. Dies dürfte auch kompatibel zur Erhaltung unterschiedlicher Kulturen sein, denn Kultur ist stärker mit der Region als mit dem Staat verwurzelt.
Aktuell versuchen bestimmte Akteure sich nicht mit solchen Kleinigkeiten abzugeben, sondern gleich die ganze Welt neu zu gestalten. Also der Versuch, mehrere (Fehl-?)Entwicklungsstufen auf einmal zu nehmen. Und wie so oft, wenn man - gerade im fortgeschrittenen Alter - versucht, mehrere Stufen auf einmal zu nehmen, wird man ins Stolpern geraten und scheitern.
Backen wir also kleinere Brötchen, backen wir unterschiedliche Brötchen für verschiedene Geschmäcker, nicht das Einheitsbrötchen für alle. Und überlassen wir die Herstellung der Brötchen nicht Menschen, die das nicht können. Ich schließe diesen Beitrag nicht ab mit den Worten "Wir schaffen das", sondern ich stelle die Frage "Wie schaffen wir das"?
"Ich halte es für relativ illusorisch zu glauben, dass ein breiter gesellschaftlicher Konsens überhaupt möglich sein wird. Zu unterschiedlich sind Kulturen, zu verschieden die Vorstellungen, zu zahlreich die Sprachen." -- Hervorragender Text, der eine Menge von Gesprächsthemen aufwirft. Wenn ich manchmal durch die Internet-Kommentare streife, ist es für mich persönlich schwer zu fassen. Intellektuell verstehe ich es aber. Da setzen Menschen in Europa ihre Lebenswirklichkeit = 100, völlig ignorierend, dass das vielleicht für eine Milliarde Menschen gilt, für mehr als sechs Milliarden aber ganz sicher nicht! Die Welt da draussen ist MEHRHEITLICH komplett anders als ihr sie kennt und einschätzen könnt, werte Kommentaristen. Ich habe das Glück gehabt, mehr als 100 Länder bereisen zu können und es macht mich fertig, wie eng der Tunnelblick oft ist. Thomas hat vollkommen recht: Verschiedene Gegenden für verschiedene Lebensentwürfe, für verschiedene Konzepte, das wär´s!